90% der Suizidopfer leiden an Depressionen. Psychische Krankheiten und das Thema Suizid müssen in die Öffentlichkeit. Hinschauen, nicht wegschauen.

Suizid braucht Öffentlichkeit – Suizid ist ein Problem unserer Gesellschaft

Das Thema Suizid ist derzeit wieder in der Öffentlichkeit. Eine Amokfahrt in Münster ist der Grund. Die Medien überbieten sich gerade wieder gegenseitig, möglichst viel über die Tat und den Menschen zu veröffentlichen. Dabei geht nicht um den Menschen, auch nicht um das Thema Suizid oder Depressionen. Es geht um Schlagzeilen. Als erstes war es ein Ausländer. Hier hat zum Glück die Polizei Münster sofort einen Riegel vorgeschoben und sich darauf berufen, erst an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn gesicherte Kenntnisse über den Täter vorliegen. Oh mein Gott und dann war es ein Deutscher. Es konnte aber nicht dabei bleiben, dass es ein Deutscher war.

 

Nein, sofort wurde die Psychokeule geschwungen. Er war psychisch labil und auffällig. Kein Wunder also, dass er Amok gefahren ist, konnte ich zwischen allen Meldungen der Medien heraus hören. Nein es wurde nicht gesagt, er litt an Depressionen. Er war psychisch labil! Obwohl dementiert wird, dass der Suizid vorhersehbar war, lese ich überall etwas anderes.

 

Kein Wort darüber, dass es psychisch Kranke in diesem Land sehr schwer haben überhaupt Hilfe zu finden, wenige Worte darüber dass er Hilfe gesucht und nicht gefunden hat, kein Wort zu der unhaltbaren Situation von viel zu wenigen Psychotherapeuten und Psychiatern. Kein Wort von den oft monatelangen Wartezeiten auf eine Therapie, trotz schwerster Diagnose. Kein Wort darüber, dass selbst medizinisch ausgebildetes Personal psychische Krankheiten einfach negieren, sich nicht einmal darüber informieren. Nein, dass alles ist keine Schlagzeile wert. 

Es ist keine Schlagzeile wert, dass es 1 Mensch von 10.000 Menschen jährlich war, der einen Suzid erfolgreich ausgeführt hat und dabei zum Leidwesen für alle, einen erweiterten Suizid begangen hat. Aber er ist und bleibt eine Ausnahme, denn psychisch kranke Menschen sind nicht gefährlich für andere. Sie sind eine Gefahr für sich selbst.

 

Darüber hinaus finde ich es schlimm, dass die Medien auf der Jagd sind, nach Beweisen, dass dieser Mann seinen Amoklauf genauesten geplant hat. Warum? Was macht diese Situation dann besser? Er hat es getan. Es hat niemand vorher sehen können. Ja, er hat schon von Suizid gesprochen. Darüber sprechen und es tun sind zwei verschiedene Schuhe. Wenn wir alle psychisch kranken Menschen, die schon einmal von Suizid gesprochen haben, jetzt als Gefahr für die Öffentlichkeit sehen, ist das zum totlachen, liebe Medien.

 

Suizid ist nicht vorhersehbar

Ich habe meine Erfahrungen mit Suizid hart lernen müssen. 4 Menschen aus meinem näheren Umfeld haben den Freitod gewählt, einfach so, ohne Abschiedsbrief und ohne Vorankündigung. Sie haben es getan, fertig. Zwei Menschen haben mehrfach von Suizid gesprochen und tun es immer noch, dann und wann, aber sie haben es niemals getan oder versucht. Darüber hinaus gibt es auch Betroffene, die nicht über einen Suizid nachgedacht haben, es aber versucht haben, ohne es selbst zu bemerken. Sie haben überlebt und so erfahren, was sie getan haben. Ich selbst war schon in Situationen, wo mich Suizidgedanken überfallen haben, einfach so. Ich konnte sie besiegen. Ich habe Glück gehabt, das meine Lebenswille stärker war. Für mich ist ein Suizid nicht vorhersehbar!  

Liebe Medien, zeigt doch mal die Menschen, in den Schlagzeilen, die einen Suizid überlebt oder doch nicht ausgeführt haben und heute glücklich darüber sind. Zeigt doch einmal die Menschen, die täglich gegen ihre eigenen Suizidgedanken kämpfen und das schon über Jahre hinweg. Das würde so manchen Suizidversuch sicherlich verhindern.

Es fehlt in diesem Land die wirkliche Akzeptanz von psychische Erkrankungen, die öffentliche Wahrnehmung der Depression als Krankheit, die ausreichende und vor allem schnelle Versorgung von psychisch Kranken durch Psychiater und Psychotherapeuten und es fehlt an Präventionsprojekten in allen Bereichen der Gesellschaft.

 

Gesellschaft und Politik schauen weg

Die Gesellschaft und die Politik sind meiner Meinung nach, potentielle Förderer der psychischen Erkrankungen und der Suizide, weil dieses Thema nicht Gesellschaftsfähig ist und immer noch ein Tabuthema ist. Dazu kommt die beständige Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen. Ich denke, in dem Maße wie der Mensch in dieser Gesellschaft, immer mehr zur Ware wird, Arbeitgeber Menschen unter Druck setzen nicht krank zu werden und immer mehr Leistung fordern oder durch Unterbesetzung erforderlich ist, Kinder und Jugendliche durch Leistungs- und Anpassungsdruck überfordert und allein gelassen werden, in dem Maße verstärken sich auch die psychischen Krankheiten und Suizide. Eine weitere Folge davon ist, dass betroffene Menschen viel zu spät oder gar keine Hilfe suchen. Niemand möchte, dass auf ihn mit dem Finger gezeigt wird: schau mal die da, die muss zum Psychiater gehen, die ist durchgeknallt … Besonders dann nicht, wenn ihre Existenz dadurch gefährdet ist.

 

Die Gesellschaft / die Politik macht die Augen zu und das Geschrei ist für eine kurze Zeit groß, wenn so etwas wie in Münster passiert oder sich ein Promi wie Robert Enke das Leben nimmt. Danach wird es wieder still, ganz still. Und ich? Ich habe die Nase voll. Ich fühle mich in eine Opferrolle gedrängt, in der ich nicht sein will! Ich bin psychisch krank. Ich bin nicht geistig behindert, labil oder gefährlich. Ich will, dass endlich alle Betroffenen schnelle therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können und die Gesellschaft aufhört uns zu diffamieren.

Es kann jeden treffen

Wir sind Menschen wie du oder er. Es kann jeden treffen: ob arm oder reich, ob Reinigungskraft, Handwerker oder Chef, ob Pflegekraft oder Arzt, ob Maurer oder Manager, ob Kind oder Rentner. Hört endlich auf wegzuschauen. Informiert euch! Passt auf euch auf!

 

Suizid-Zahlen-Daten-Fakten

"Es sterben in Deutschland nach wie vor deutlich mehr Menschen durch Suizide als durch Verkehrsunfälle, Mord, illegale Drogen und Aids zusammen. Laut offizieller Statistik nehmen sich jedes Jahr ca. 10.000 Menschen das Leben.

Das bedeutet, dass sich alle 53 Minuten ein Mensch das Leben nimmt.

Wenn man bedenkt, dass von jedem Suizid im Schnitt etwa 6 Menschen betroffen sind – neben der Familie und den Freunden auch Arbeitskollegen und Vorgesetzte – wird einem das Ausmaß dieser Handlung erst richtig bewusst.

 

Nachahmer-Effekt Experten gehen von einem Zusammenhang zwischen der medialen Berichterstattung über Selbstmorde und der Anzahl der Suizide und Suizidversuche aus. So stiegen z.B. beide Zahlen nach dem Selbstmord des Fußball-Torhüters Robert Enke im Jahr 2009/2010 deutlich an. Bereits bei der Veröffentlichung von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ war es 1774 zu einer Suizidwelle gekommen, wobei zahlreiche Tode deutlich als Nachahmung der Romanvorlage erkennbar waren. In der wissenschaftlichen Literatur werden die Nachahmer-Suizide deswegen als „Werther-Effekt“ bezeichnet.

Das ist auch der Grund, warum sogenannte „Personenschäden“ bei der Bahn nicht mehr offiziell als solche bezeichnet werden. Obwohl die Bahnunglücke aufgrund suizidaler Handlungen zugenommen haben, wird in den Medien kaum darüber berichtet bzw. werden die resultierenden Wartezeiten oder Verspätungen den Fahrgästen gegenüber anderen Ursachen zugeschrieben."

 

(Quelle: http://www.fuerstenberg-institut.de/newsletter/suizid-zahlen-daten-fakten/)

 

Wir brauchen mehr Bewusstsein für das Thema

"Wir brauchen dringend mehr Bewusstsein für das Thema", sagt Ute Lewitzka, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Dresden und stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Suizidprävention (DGS).

"Man hat das Gefühl, Suizid wird als Problem von der Gesellschaft nicht wahrgenommen. Sogar Menschen, die in sozialen und medizinischen Bereichen arbeiten, wissen vielfach gar nicht um die Dimension des Problems – und das trotz grenzenloser Informationsflut, die wir haben."

Warnungen der Experten verhallen oft ungehört - Allein in Deutschland werden etwa 150.000 Suizidversuche verübt, obwohl es hierzu keine verlässlichen Studien gibt. Dabei begehen in keinem anderen Lebensabschnitt so viele Menschen Suizidversuche wie vor dem 25. Lebensjahr.

 

Nach Unfällen sind Suizide die zweit-häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen. Jeden zweiten Tag stirbt in Deutschland ein Jugendlicher durch seine eigene Hand.

 

Doch wo beim Thema Verkehr überall Schilder vor hohem Tempo, Unaufmerksamkeit und Alkoholkonsum am Steuer warnen, wo jede negative Bilanz eine Flut an Informationen und Präventionsprojekten nach sich zieht, verhallen die Warnungen der Suizidexperten oft ungehört.

 

"Das ist eben kein Salonthema oder ein Wahlkampfthema. 

Über Suizid zu sprechen ist leider oft immer noch ein Tabu.

Dabei brauchen gerade die Betroffenen vor allem eines: Gespräche darüber", sagt Lewitzka.

 

(Quelle: https://www.abendblatt.de/nachrichten/article211843431/Alle-53-Minuten-ein-Suizid.html)