Ich versuche es, ist ein erreichbares Ziel! Von Verantwortung und langsam gehen bis Blinde Kuh.

Ich versuche es, ist ein erreichbares Ziel

Therapiestunde - Wieder geht es mir nicht gut und ich sitze in Hochspannung da. Meine Therapeutin wundert sich, da ja die letzte Stunde sehr gut beendet wurde. Wir beginnen mit der vergangenen Woche. Welches Wochenziel hatte ich und welches Tagesziel habe ich erfüllt.

 

Wochenziel:

Struktur einhalten, Ergotherapie, Geburtstagspäckchen packen, 1 erreichtes Tagesziel aufschreiben.

(Das sind vier Ziele!)

 

Aufgeschriebenes Tagesziel:

  • Krankenkarte einlesen erledigt, Brot eingekauft
  • Ausgiebig geschlafen, ohne schlechtes Gewissen, Abendbrot gekocht
  • Möhrensuppe (2 Kg Möhren geschält) gekocht, Päckchen gepackt, Staubsauger benutzt
  • Ergotherapie, kleiner Einkauf bei Aldi und Abendbrot gemacht
  • Schlafanzugtag der Ruhe und Telefonat mit Freundin
  • Anstrengender Tag in Potsdam, mit angezogener Handbremse, jeder Schritt ein Kraftakt
  • (Das sind je Tag mehrere Ziele)

Ich hatte eine gute Woche, ich habe Pause gemacht und für mich gesorgt. Samstag einen ruhigen Schlafanzug-Schlampertag eingelegt, damit ich fit für Potsdam bin. Trotzdem war Potsdam ein einziger Kraftakt. Ich habe in Potsdam Pause eingelegt, mich zurückgezogen und wir haben einen kleinen Spaziergang gemacht zu einem wundervollen Aussichtspunkt, mit einer tollen Ruine. Meine Enkeltochter war mir sehr zugewandt – Oma schau mal – Oma ich zeig dir mal was … Es war so schön, Oma zu sein und doch so anstrengend, das mir richtige Freude versagt bleibt. Der Montag war dann wieder, wie gehabt, es ging gar nichts. Ich habe den Tag verschlafen und nur Abendbrot hinbekommen.

 

Mit angezogener Handbremse

Unser Gespräch dreht sich nun darum, warum der Sonntag so gelaufen ist. Es gab keinerlei Gründe dafür, mit angezogener Handbremse den Tag zu erleben. Ich habe in der Woche gut für mich gesorgt und habe mich auf Sonntag gefreut. Trotzdem habe ich die Handbremse angezogen. Aber warum? Vorstellbares Ergebnis war für mich, das meine Angst vor Überforderung, die Handbremse ausgelöst hat. Bisher habe ich mich stets, an solchen Tagen, völlig überfordert. Habe immer versucht alles zu geben und überall dabei zu sein. Jetzt wollte ich Verantwortung übernehmen und auf mich aufpassen, da hat sich die Angst eingeschaltet. Die Angst, wieder alles falsch zu machen, nicht eine gute Oma zu sein... . Einen Tag mit angezogener Handbremse zu verbringen, bringt im Ergebnis mit sich, dass es mir am folgenden Tag schlecht geht. Er hat zu viel Kraft verbraucht.  

 

Blinde Kuh - Ich sehe dich nicht. Du siehst mich nicht

Für mich ist alles anstrengend. Ich möchte unbedingt den Enkeln und Kindern zugewandt sein. Das heißt aber auch, ich muss sie anschauen. Ich übe schon seit 2 Jahren, Menschen wieder in die Augen zu schauen. Wenn ich zum Bäcker gehe oder an die Kasse „du musst jetzt die Verkäuferin anschauen“ redet mein Kopf. Ich bekomme es hin, mal mehr und mal weniger. Früher, vor meinem Zusammenbruch, habe ich sehr gern Menschen in die Augen geschaut. Nur dann, läuft ja ein Gespräch sehr gut, weil man auch sieht wie der andere fühlt. Das gibt den Worten erst die richtige Richtung. Seit meinem Zusammenbruch ist das anders. Es fällt mir unheimlich schwer, auch wenn ich nicht weiß warum. Es betrifft alle Menschen um mich herum, ob Freundin oder Ehemann, selbst bei meiner Therapeutin habe ich dieses Problem.  

„Nehmen sie auch dabei den Druck raus – wie wäre es mit -ich möchte die Verkäuferin anschauen-?“

 

Schatten der Vergangenheit

„Warum ist das so? Erinnern sie sich? Was haben sie in der Vergangenheit erlebt? Was haben sie gesehen, wenn sie bestimmten Menschen in die Augen geschaut haben oder was ist passiert?“, fragt meine Therapeutin.

 

Es ist so lange her und ist doch noch in mir?  

Ja, es gab Menschen in deren Augen ich pure Verachtung und Wut gesehen habe. Ja, es gab Menschen, die mich angeschrien haben „guck nicht so blöd“, „wie du schon wieder guckst – ich könnte dir eine reinziehen“... . Ja, es gab auch Ohrfeigen oder Kopfnüsse, weil ich „so“ schaute, wie ich schaute. Manchmal auch mehr.

 

Später in den letzten 7 Jahren meiner Arbeit, hörte ich oft, „wie sie schon wieder gucken“, „ich sehe ihnen an, dass sie ein Problem haben“, „ihre Augen verraten sie“, „ich kann sehen, wie sie über den Vorschlag denken“, „ich kann sehen, dass sie nicht einverstanden sind“... . Ja, leider konnte ich mich noch nie gut verstecken. Was natürlich auch seine positiven Seiten hatte, denn auch meine Zugewandtheit und Freude war deutlich zu spüren. Aber auch das hat mir nicht nur positive Reaktionen gebracht.

 

"Sie wollen keine Menschen sehen. Sie wollen vermeiden, dass ihnen bewusst wird, dass jeder erkennt wie es ihnen geht, dass sie krank sind. Sie wollen abwertende oder belächelnde Blicke von anderen nicht sehen. Ich kann sie aber sehen und sehe wie es ihnen geht".

Daher kommt also mein Problem, Menschen nicht mehr anzuschauen. „Ich verhalte mich wie ein kleines Kind. Ich verbinde mir die Augen (Blinde Kuh). Wen ich nicht sehe, der sieht mich auch nicht“, äußere ich entsetzt. „Ja, dass ist ein guter Vergleich und für heute genug“, antwortet meine Therapeutin. 

 

Ich versuche es, ist ein erreichbares Ziel

Zum Abschluss besprechen wir noch einmal das Wochenziel. Ich fange an und werde gebremst. „Wir haben von EINEM Wochenziel gesprochen und EINEM Tagesziel. Nicht wie in der vergangenen Woche, wo es mehrere Ziele waren. Es geht um EIN Ziel.“ 

Grrr und da wäre wieder meine zu hohen Selbst-Anforderungen. Wieder bin ich zu schnell. Ich muss noch langsamer gehen.

 

„Gut, dann werde ich meine Grenzen erkennen“, antworte ich.

Kopfschütteln und Lächeln. „Wie wäre es mit: ich versuche meine Grenzen zu erkennen“?

Nein, damit kann ich nicht umgehen. Auf ihre Nachfrage dazu, sage ich: Versuchen heißt nichts! Entweder ich tue es oder ich tue es nicht. Wenn jemand sagt, ich versuche es, kann ich es gleich selbst machen. Wenn jemand sagt, ich versuche die Forderung zu erfüllen, ist er beim Chef durchgefallen. Das sind meine Erfahrungen.  

 

Meine Therapeutin schüttelt ungläubig den Kopf. „Es geht darum, ein erreichbares Ziel zu stellen! Ich versuche es, heißt: ich versuche es und das ist ein erreichbares Ziel, ein Erfolg!“  

 

Wir einigen uns auf „ICH MÖCHTE MEINE GRENZEN ERKENNEN“. Damit gehe ich in meine neue Woche.