Suizid. Darüber sprechen und schreiben, statt Verurteilen und Totschweigen. Meine Sichtweisen, Erfahrungen und Erkenntnisse. Suizid ist nicht die Lösung. Hilfe

Tabu-Thema Suizid

Ja, ich habe einen Suizidversuch unternommen. Ich war 22 Jahre alt und ich wollte sterben. 

Ich ging auf die Gleise und wartete auf den Zug, der nicht kam. Mein ungeborener Sohn rettete mich. Ich habe überlebt und ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich bin dankbar, dass ich lebe.

 

Heute habe ich ein Interview zum Thema Suizid gegeben. Es war  ein ruhiges und gutes Gespräch. Ich habe offen erzählt, was der Krise vorausging, was in der Krise genau geschah, was danach passierte und wie es mir heute geht. 

 

Ich bin dankbar dafür, dass Jana Hauschild mich für ihren Beitrag ausgewählt hat. Die Fachzeitung möchte einen Beitrag, in dem Fachleute und Betroffenen zu Wort kommen, veröffentlichen. Das Thema Suizid aus der Tabuzone zu holen.

 

Das kann ich nur unterstützen, denn ich bin dafür, dass endlich darüber gesprochen wird. 

 

Das Thema betrifft Menschen in absoluten Lebenskrisen, Menschen mit Depression! Das Thema muss raus in die Öffentlichkeit, damit Menschen begreifen, dass die Depression eine tödliche Krankheit ist. Es muss raus in die Öffentlichkeit, damit Suizide verhindert werden können, weil Betroffenen-Berichte zeigen, wie sie überlebt haben und das Leben heute positiv gestalten. Dass sich das Leben zum Guten wenden kann. Ich weiß es!

Alle 58 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben

Es muss aufhören, Menschen die es getan haben, ob tot oder überlebt, verurteilt werden. Niemand hat das Recht, auf die Überlebenden mit dem Finger zu zeigen, die Toten als Feiglinge zu betiteln. Niemand hat das Recht, Suizid ins Lächerliche zu ziehen oder es als Unrecht oder gar Tot-Sünde zu verpönen. Niemand kann in den Kopf eines anderen sehen, seine Gedanken lesen. Niemand! Denn niemand hat eine Ahnung davon, wie tief die Lebenskrise ist, wie einnehmend die Depression ist, in der dieser Mensch steckt. Was er denkt und fühlt, wie furchtbar hilflos er ist und wie verloren er sich fühlt.  Noch immer wissen viele Menschen nicht, wie gefährlich die Depression ist und nehmen sie daher nicht ernst oder verlachen sie. Noch immer wird mehr weg geschaut wie hin geschaut.

Damals war es ...

Es ist viele Jahre her, Jahrzehnte. Wenn ich heute zurück denke, mit dem Wissen was ich heute habe und den Möglichkeiten die es heute gibt, würde ich es nicht wieder tun! Damals hatte ich weder das Wissen und Möglichkeiten noch irgendjemanden dem ich mich anvertrauen konnte, der mir hätte helfen können. Ich war allein und das einzige was ich hatte (mein Kind) war gerade in meinen Armen gestorben. Ich hatte keinen Halt mehr und alles was ich wollte, war sterben. Dann wäre diese Hölle beendet und ich würde bei meinem Kind sein. Weil mein ungeborener Sohn, mit den Lebenswillen gab, habe ich abgebrochen, bevor es zu spät war. Er konnte ja nichts dafür und sollte leben. Ich konnte ja noch später sterben. Als er geboren war, dachte ich nicht mehr ans sterben, denn er brauchte mich und sich meine Lebenssituation nicht verändert hatte.

 

Dem Mann an meiner Seite hätte ich mit meinem Suizid einen Gefallen getan. Was andere darüber gedacht hätten, weiß ich nicht. Ich habe meinen Suizidversuch in mir getragen, über die Jahrzehnte. Ja! Manchmal dachte ich, warum hast du es nicht getan. Doch Suizid heißt Tod für alle Zeit. Ich hätte all die schönen Jahre, Monate, Tage und Momente nicht erleben können. Ja, die gab es und heute (seit 2010) bin ich glücklich verheiratet. Ich hätte nicht begreifen und erleben dürfen, dass sich das Leben zum Guten wendet, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt, auch wenn es noch so dunkel ist und ich es nicht sehen kann. Das Licht ist da. Immer! 

Suizid ist Feige

Noch immer ist Suizid feige. Wenn der Mensch zu feige ist, sich dem Leben zu stellen und Hilfe anzunehmen, bringt er sich um. Nein, dem ist nicht so. Ich war nicht zu feige, mich dem Leben zu stellen. Ich habe unglaubliche Kämpfe hinter mir, körperliche und psychische Gewalt erlebt und mein Kind verloren. Nein, ich hatte KEINE HILFE. "Genossen schlagen ihre Frauen nicht ... Hören sie auf zu lügen, oder wir sehen uns wo anders wieder". Worte die ich noch heute höre. Was es nicht geben darf, gab es nicht, in der DDR und manchmal ist es heute noch genau so. 

 

Der Suizid steht immer am Ende eines langen Leidensweges, am Ende der Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Eines Leidensweges in der eigenen Lebenswirklichkeit, in der Depression oder im Verbund von beiden. Es ist nicht feige! Es braucht viel Kraft, das Leben zu bewältigen und Suizidgedanken lange abzuweisen, zu überleben. Es braucht die Kraft und den Mut, diese Entscheidung zu fällen, denn auch wenn ich mir wünsche zu sterben, es blieb immer ein  ganz kleiner Funke für das Leben.  Kein Mensch, der nicht schon einmal an dieser Schwelle stand, weiß wie fürchterlich einsam und hilflos man sich fühlen muss, um diesen Schritt in den Tod zu gehen. Ich denke, es sind ganz oft wahnsinnig starke Menschen, die aufgeben. Leider. An der Stelle ist Suizid nicht mehr zu verhindern.

Suizid ist ein böses Wort, es gehört sich nicht

Suizid ist verpönt. Suizid ist peinlich. Über Suizid spricht man nicht!

"Suizid kann man doch verhindern. Die Familie muss doch etwas gemerkt haben. Die haben sie in den Suizid getrieben. Sie kann nicht kirchlich beerdigt werden. Sie ist doch selbst schuld. Sie hatte nicht alle Sinne beisammen. Sie hatte doch ein schönes Leben". ...

Es ist leicht zu bewerten und zu verurteilen. Menschen sehen nur das, was ich nach Außen zeige. Ob ich ein schönes Leben habe, kann niemand beurteilen. Sehr oft kann man Suizid nicht vermeiden, denke ich. Meine Fassade stand. Niemand hat damals etwas von meiner Hölle gewusst oder ahnen können. Wenn ich es tun will, dann gehe ich los und tue es. Punkt. Ich bin nicht selbst schuld, in diese ausweglose Situation geraten zu sein. Ich habe mein Möglichstes getan. Und heute? Ich habe mir das Leben mit Depression und Trauma nicht ausgesucht. Die Depression kann jeden treffen.

 

Suizid ist ein Verbrechen am Menschen? Nein. Suizid ist eine Entscheidung! Meine Entscheidung. Sie kann akzeptiert oder beurteilt/verurteilt werden. Für mich ändert es nichts. Es war meine Entscheidung und ich wollte nur noch eines, STERBEN. Und ja, ich hatte noch alle Sinne beisammen. Wenn Gott es für eine Todsünde hält, dann muss er sich fragen lassen, warum er es zulässt, das Menschen in solche tiefen Krisen geraten. 

Stigma Depression

Auch wenn es heute Anlaufstellen und Hilfe gibt, sind diese dennoch nur mit hohen Barrieren zu erreichen. Das Stigma von Depression und Suizid (selbst bei Medizinern), treibt viele weg, von der notwendigen Hilfe. So lange es möglich war, trug ich eine Maske, damit niemand meine "Schwäche" bemerkte. Als es offensichtlicher wurde, bekam ich keine Hilfe, meine Schwäche benutzt und immer noch oben drauf gehauen. Wer schwach ist, der verliert nur noch. Das ist die Lebenswirklichkeit, in dieser unserer Gesellschaft.

 

Meine andere Erfahrung ist, dass Stigma von Depression, Menschen dazu bringt, diese Krankheit zu verleugnen, sie nicht zuzulassen. Sie lehnen jegliche Hilfe ab, weil sie es allein schaffen wollen. Depression, was für ein Quatsch, ich doch nicht.

Psychische Hilfe anzunehmen wird noch immer verlacht. "Psychologie ist Hokus-Pokus und Gehirnwäsche". Psychische Hilfe anzunehmen, heißt schwach -  zu doof zum leben zu sein und das kann nicht sein. Ich doch nicht! Darüber hinaus heißt Hilfe annehmen auch, sich zu öffnen - es "öffentlich" zu machen und das ist mit Scham und Angst verbunden. Daher wird die Fassade aufrecht gehalten und irgendwann ist es zu spät.

 

Das Stigma der Depression verhindert, dass Warnungen und Hinweise von Menschen, die selbst betroffen waren, welche die Depression kennen, ignoriert und als völlig überzogen bewertet werden. "Nicht jeder braucht gleich einen Psychiater..."  Das Leben ist oft sehr oberflächlich und es ist einfacher nicht so genau hinzuschauen. "Der wird schon wieder"... "Der schafft das schon"... 

Suizid ist nicht die Lösung. Suizid verschweigen auch nicht.

Suizid ist ein Weg, die Lebenskrise zu beenden. Für immer. Ich bin Tod. 

Suizid ist NICHT die Lösung! So sieht meine Lösung aus:

  • Psychologische Hilfe anzunehmen.
  • Lernen zu dürfen, wer und was ich bin, was ich kann. Das ist so  wunderbar. Es tut weh. Es tut gut! Es bringt so viele tolle Erkenntnisse. Es führt nicht zurück in das Leben! Es führt voran in ein besseres Leben, in das Licht.
  • Leben zu lernen, wie es für mich gut ist, mit meinen Entscheidungen, meinen Einschränkungen und in meiner Verantwortung. Ich wusste gar nicht wir gut es tut.
  • Menschen aus meinem Leben verbannen, die mich runterziehen, die mir nicht gut tun.

Suizid verschweigen, ist totschweigen einer Tatsache, die alle 58 Minuten zur Wirklichkeit wird. Ich glaube, je mehr Betroffene/Überlebende von ihrem Suizid offen und ehrlich erzählen, je besser.

 

Je mehr Betroffene,

  • finden ihren Weg zur Hilfe. Erfahren was Therapie leisten kann.
  • erfahren vom Leben nach dem Suizidversuch.
  • wird die Hoffnung bestärkt, das sich ein Leben positiv verändern kann.
  • wird erkennbar, dass es sich lohnt zu überleben, den Suizidgedanken entgegen zustehen.

Je mehr Menschen werden,

  • Verständnis für das Thema entwickeln.
  • höhere Achtsamkeit und Aufmerksamkeit gegenüber Betroffenen  haben.
  • auch in der Erforschung von Psyche, Depression und Suizid voran kommen.

Komm mit. Hab Mut. Wir leben weiter. Es lohnt sich. Vertraue mir!


Das sind meine Erfahrungen, Erkenntnisse und Sichtweisen. Sei beruhen nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und erheben nicht den Anspruch auf vollständige Richtigkeit. Ich möchte nicht mehr schweigen und ein wenig helfen, zu verstehen. Aufzeigen, dass niemand ist allein.