Gedanken um meinen Suizid von damals und meine Suizidgedanken von heute. Ich habe überlebt. Ich will leben, weil mein Leben schön ist.

Suizidgedanken damals und heute

Für diesen Text habe ich ein Foto meines kleinen Lebensretters ausgesucht. Mein Sohn, der heute erwachsen und ebenfalls psychisch krank ist. 

Zum Zeitpunkt meines Suizidversuches war ich im 7. Monat schwanger mit ihm. Erst auf den Bahngleisen, erst durch seine festen Tritte in meine Rippen, richteten sich meine Gedanken auf ihn und auf das Leben! Wir haben überlebt.

 

Ich war so wahnsinnig jung. 22 Jahre und ich hatte gerade mein Kind verloren. Ich lebte in einer Hölle, die man Ehe nennt. Erlebte körperliche und psychische Gewalt.

Lebte ich? Nein, ich überlebte jeden Tag aufs Neue. Ich lebte für mein Kind. Ich tat alles nur mögliche, um meinem Mann keinen Grund zu geben, auf mich los zu gehen.  Er brauchte keinen Grund. Auch das nun zu erwartende 2. Kind änderte nichts. Wie ich lebte wusste niemand. Es war mir peinlich es zu erzählen, da ich ja eh immer selbst Schuld war und nichts richtig machen konnte.

Wird schon nicht so schlimm gewesen sein

"Du musst ihn nicht so reizen, kein Wunder dass ...", "setz doch nicht immer deinen Kopf durch, dann... ". Kluge Worte, von Menschen, die mich kannten und doch nicht kannten, nicht sehen und hören wollten. Für sie war es völlig normal, es konnte bei mir nicht anders sein. Als ich Jahrzehnte später, ein Erinnerungsalbum gezeigt bekam,  war ich fassungslos. Die Fotos meiner, dieser Hochzeit, war alle darin hübsch angeordnet eingeklebt. Auf meine Nachfrage, was sie da zu suchen haben, kam die Antwort: "Wird schon nicht so schlimm gewesen sein. Du lebst ja noch". Noch heute kann ich diese Worte nicht begreifen.

Es war meine Hölle

Bis heute kann ich diese Erlebnisse aus 1. Ehe nicht bearbeiten. Ich kann mich nicht,  in der Traumverarbeitung diesen Erinnerungen und Gefühlen aussetzen. 

Ich lebte in der Hölle. Ich war neu in dieser Stadt, weit weg vom Elternhaus und ohne jeden Kontakt zu anderen Menschen, bis auf die Hausbewohner. Ich war allein und 22 Jahre alt. Ich lebte fixiert auf mein Kind. Meine Tochter schenkte mir die Überlebenskraft. Doch als sie starb, starb auch ich ein ganzes Stück. Wenn ein Kind stirbt, dann ist die Welt aus den Fugen und sie wird nie mehr, was sie einmal war. Mit ihrem Tod, verstärkte sich meine Hölle noch und nun musste ich mein 2. Kind im Bauch beschützen. "Du hast mein Kind umgebracht ... Du Mörderin ... Den Balg kannst du im Krankenhaus lassen ..." 

 

Irgendwann war es genug. Meine Welt war leer, sie war tot. Ich schrie den Himmel an, ich schrie Gott an und versuchte Hilfe zu bekommen, die man mir unter Bedrohung verweigerte. Ich sah keinen Sinn mehr, für irgendwas zu kämpfen. Ich wollte diese Leben nicht mehr. Ich wollte nur noch sterben. Doch ich wusste nicht wie. Denn ich musste sterben, sonst würde mein Mann dafür sorgen, dass ich für immer weggesperrt würde. Angedroht hatte er das ja schon mehrfach. Ich wollte sterben, dann wäre alles vorbei, für immer.

Auf den Bahngleisen

Irgendwann nach der Beerdigung meines Kindes und vor meinem 22. Geburtstag, stand ich dann auf den Bahngleisen. Ohne Jacke und in Hausschuhen. Wie ich dort hingekommen war, entzieht sich meiner Erinnerung. Es war dunkel, es war Winter und bitter kalt. Diese Kälte war jämmerlich. Ein diffuses Licht schien von irgendwo. Ich irrte auf den Gleisen umher, mir war kalt. Ich wollte sterben. Es würde nur noch einmal weh tun, dann wäre es vorbei. Für immer. Wenn doch bloß endlich der verdammte Zug käme. Das war alles was ich denken konnte. Ich weiß nicht wie lange ich dort umherirrte. Niemand sah mich oder wollte mich sehen. Es störte mich jedenfalls niemand. Mir war jämmerlich, ich wollte sterben, mir war so elend kalt.

Dann regte es sich in meinem Bauch. Mein Kind bewegte sich heftig und trat mir mehrfach schmerzhaft in die Rippen und auf die Blase. Ja, es war auch noch da und ich hatte es völlig vergessen. Ich wollte nur noch sterben. Jetzt aber wurde mir bewusst, dass ich nicht allein sterben würde. Mein Kind wollte ich nicht töten. Es konnte ja nichts dafür. Mir war jämmerlich kalt und die Tränen liefen über mein Gesicht. Ich kann jetzt nicht sterben, jetzt noch nicht und doch wollte ich so gern sterben.

Ich ging zurück, kletterte auf einen Bahnsteig, lief nach Hause und legte mich schlafen. Wie ich nach Hause kam und welchen Zeitraum ich auf den Gleisen verbracht habe, entzieht sich meiner Erinnerung. Ich ging in meine Hölle zurück, die noch 2 Jahre andauerte. Ich habe überlebt.

 

Die Erinnerung an die Zeit auf den Gleisen, die Gefühle, die Machtlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, diese Verlassen-sein von allen, die Hilflosigkeit, die Angst und diese riesige Verzweiflung sind noch da. Ich könnte darüber einen Film drehen.

Überleben ist auch Chance

Nichts davon habe ich über Jahrzehnte erzählt. Erst im laufe meiner stationären und ambulanten Traumatherapie begann ich darüber zu sprechen. Niemand wusste es, insbesondere meine Familie nicht. Bis zu dem Tag, als mein Bruder sich erschoss. Mir ist völlig klar, hätte ich damals die Möglichkeit meines Bruders gehabt, dann wäre ich heute auch tot. Erschossen. Ich hatte sie nicht und heute bin ich froh darüber, dass ich sie nicht hatte.

Ja, ich habe noch einige Ereignisse erlebt, auf die ich ganz sicher hätte verzichten können. Das Leben nahm seinen Lauf und immer wenn ich dachte, jetzt kann ich frei leben, bekam ich einen Schlag. Mir sollte es wohl nie zu gut gehen. Ich hätte auf so manche Dinge gern verzichtet. Manchmal wünschte ich mir, der Zug wäre gekommen. Doch ich habe alles überlebt. Ich lebe noch. Ich kann auf die akut schlechten Jahre zurückschauen, aber auch auf schöne Jahre und Jahre im Wechselbad der Gefühle, der Sorgen und Nöte. Ich habe überlebt.

Doch irgendwann, war mein Fass voll und es lief über. Die Lichter gingen aus und nichts mehr war wie es einmal war. Die Depression kam mit ganzer Kraft und nahm mich aus dem Leben. Doch ich lebe noch und mit den Therapien habe ich mich selbst kennengelernt und gelernt warum ich bin wie ich bin. 

Suizidgedanken im Heute

Mit der Depression kamen noch eine Angststörung, Störung des Sozialverhaltens und Dissoziationsstörung hinzu. Nein mein Leben ist nicht ganz einfach und doch will ich leben. Heute lebe ich frei, wenn auch mit Einschränkungen. Doch inzwischen habe ich gelernt, besser damit umzugehen und Strategien entwickelt sie im Rahmen der Handlungsfähigkeit zu halten. Natürlich vereinen sich viele traumatische Erinnerungen in meinem Handlungsverhalte, heute. Das ist so. Positive Veränderungen brauche Geduld und viel Zeit. Mit der Traumverarbeitung kamen auch Suizidgedanken auf. Ganz nebenbei. Überfallartig. Beispiele:

  • Ich gehe auf der Steilküste entlang und schaue auf das Meer. Ich bin an einem meiner Lieblingsorte. Meine Gedanken gehen ihren Weg: Nur einen Schritt weiter, ein Fall und es ist vorbei. Diese Gedanken verwarf ich sofort, ich war am Meer und wollte nicht sterben. Und doch gab es diese Gedanken.
  • Ich stehe an einer roten Ampel. Später komme ich auf der anderen Seite zu mir. Die Ampel ist immer noch rot und ich weiß nicht, wie ich auf die andere Seite gekommen bin. Es ist 2 oder 3 mal passiert, bevor ich meine Gegensteuerung lernte.
  • Ich stehe an einer Straße, die ich überqueren möchte. Meine Gedanken gehen ihren Weg: Schau da ein LKW, nur einen Schritt und es ist vorbei.

Diese LKW-Suizid-Gedanken sind heute noch in meinem Leben. Ich habe keine Ahnung woher sie kommen und warum sie immer wieder auftauchen. Plötzlich und ohne Grund. Dabei ist unerheblich ob es mir gerade gut oder nicht so gut geht. Bisher konnte ich diese Gedanken immer in die Schranken verweisen und sofort widersprechen. Instinktiv gehe ich auch einen Schritt zurück, weg von der Straße. In meinem Kopf kämpfen Suizid und Leben miteinander, irgendwie. Doch mein Lebenswille ist stark genug.

Überleben lohnt sich, trotz Depression und Trauma

Seit 2011 lebe ich mit Depression und Trauma. Heute lebe ich so gut ich kann. Ich habe so viel, was andere nicht haben. Einen "besten Ehemann der Welt", Kinder und Enkelkinder und ich denke wir leben gut miteinander. Teilen Freud und Leid. Mein Leben mit der Depression hat Einschränkungen, doch mein Leben ist lebenswert. Ich bin nicht allein und kann sein wie  ich bin. Das ist es Wert, zu überleben.

Wäre mein Suizidversuch damals erfolgreich gewesen, hätte ich diese Beziehung nie erlebt, hätte ich so viel Schönes verpasst. Nein Suizid ist nicht die Lösung. Das Leben hat so viel Zeit, Zeit für die schönen Dinge, die erlebt werden wollen. Ich bin dankbar dafür, das ich überlebt habe und heute leben will!