Eine brenzliche Situation triggert Bilder aus meinem Suizidversuch 1983 in das Jetzt. Was wenn es doch anders war?

... und wenn es doch anders war?

Ist dieses Foto so oder anders? Welche Perspektive zeigt es? Was ist oben? Was ist unten?

Nein, dieser Blog dreht sich nicht um dieses Foto. Aber es gibt, für mich, meine Verwirrung deutlich wieder.

Heute hat eine brenzliche Situation im Straßenverkehr die Erinnerungen an meinen Suizidversuch auf den Kopf gestellt. Seit heute weiß ich, nicht wirklich, wie es war. Ich war so sicher, alle Erinnerungen daran gespeichert zu haben. Ich sehe sie ja noch, wie im Film. Doch sie sind sehr wahrscheinlich ein Irrtum. Die heftigsten Erinnerungen hat meine Seele weg gesperrt. Heute sind sie hervor gebrochen.

 

... und wenn es doch anders war?

Meine Erinnerungen an das Geschehen 1983

Irgendwann nach der Beerdigung meines Kindes und vor meinem 22. Geburtstag, stand ich dann auf den Bahngleisen. Ohne Jacke und in Hausschuhen. Wie ich dort hingekommen war, entzieht sich meiner Erinnerung.

 

Es war dunkel, es war Winter und bitter kalt. Diese Kälte war jämmerlich. Ein diffuses Licht schien von irgendwo. Ich irrte auf den Gleisen umher, mir war kalt. Ich wollte sterben. Es würde nur noch einmal weh tun, dann wäre es vorbei. Für immer. Wenn doch bloß endlich der verdammte Zug käme. Das war alles was ich denken konnte. Ich weiß nicht wie lange ich dort umherirrte. Niemand sah mich oder wollte mich sehen. Es störte mich jedenfalls niemand. Mir war jämmerlich, ich wollte sterben, mir war so elend kalt.

Dann regte es sich in meinem Bauch. Mein Kind bewegte sich heftig und trat mir mehrfach schmerzhaft in die Rippen und auf die Blase. Ja, es war auch noch da und ich hatte es völlig vergessen. Ich wollte nur noch sterben. Jetzt aber wurde mir bewusst, dass ich nicht allein sterben würde. Mein Kind wollte ich nicht töten. Es konnte ja nichts dafür. Mir war jämmerlich kalt und die Tränen liefen über mein Gesicht. Ich kann jetzt nicht sterben, jetzt noch nicht und doch wollte ich so gern sterben. Ich ging zurück, kletterte auf einen Bahnsteig, lief nach Hause und legte mich schlafen.

 

Wie ich nach Hause kam und welchen Zeitraum ich auf den Gleisen verbracht habe, entzieht sich meiner Erinnerung. Ich ging in meine Hölle zurück, die noch 2 Jahre andauerte. Ich habe überlebt. 

Heute im Auto, auf dem Weg nach Hause

Wir waren heute in der Prager Straße einkaufen. Ein schönes Erlebnis, da wir uns neue Koffer kauften. Zu meiner Freude gab es unsere ultra-leichten und mittelgroßen Koffer schon im 2. Geschäft. Das hatte "verrückte Woche", so dass wir noch 20% Rabatt bekamen. Unser Auto stand auf einem Parkplatz vor dem Rathaus. Alles gut verstaut, machten wir uns auf den Heimweg.

 

20m vom Parkplatz, mussten wir Straßenbahngleise queren. Eine Gelb/Rot-Ampel regelt dort die Straßenbahn-Vorfahrt. Schon als wir vom Parkplatz herunter fuhren bemerkte ich die gelbe Ampel und die heran nahende Straßenbahn. Doch Michael schien weder die Ampel, noch die Straßenbahn zu sehen, denn er fuhr ohne Stop über die nun schon knall-rote Ampel. Ich sah die Straßenbahn und die rote Ampel. Ich schaute in die Scheinwerfer der Straßenbahn, die schon bedenklich nah war und näher kam.

 

Ampel-Rot - Straßenbahn-Scheinwerfer - diffuses Licht ...

Alles verschwamm im Miteinander und ich schrie aus voller Kehle. Angst bestimmte meinen gesamten Körper. Mein Herz wollte aus der Brust springen, mein Gehirn die Schädeldecke durchdringen und meine Stimmbänder klirrten im Hals. Mir war eiskalt.

 

Plötzlich war ich nicht mehr im Straßenverkehr.

Plötzlich war ich auf den Bahngleisen im diffusen Licht, das über den wirren Gleisanlagen schien.

Plötzlich raste ein Zug auf mich zu und unmittelbar an mir vorbei.

 

Ich hörte mein Schreien. Mein Hals schmerzte vom Schreien. Ich war wieder im Auto, es war nichts passiert. Ich hörte irgendwann auf zu schreien. Ich war völlig fertig mit den Nerven und nicht wirklich da. Schon setzte mein Verstand wieder ein und fragte sich, was ich da gerade erlebt und was ich gerade gesehen hatte.

... und wenn es doch anders war?

Was hatte ich da gerade gesehen und gefühlt. War ich doch nicht einfach, auf Grund der eisigen Kälte und der Bewegung meines Sohnes im Bauch, von den Gleisen gegangen? War ein Zug gekommen? War der Zug auf mich zugefahren und nur auf einem anderen Gleis, an mir vorbei gefahren? Hatte ich in die Scheinwerfer des Zuges geschaut? Hatte ich doch Angst vor dem Schmerz, vor dem Tod? Wollte ich doch leben und hatte das Glück, dass der Zug auf dem Nebengleis fuhr oder war ich dem Zug ausgewichen, im letzten Moment?

 

Ich weiß es nicht.

 

Haben sich Bilder von Heute und Damals verbunden? Werfe ich jetzt Erinnerungen aus dem Suizidversuch oder einer anderen Situation durcheinander? Vielleicht war es ja auch die Erinnerung an eine Situation auf der Autobahn vor Jahren, als wir einem schweren Autounfall direkt vor uns, ausweichen mussten? Aber da war es hellerlichter Tag und es gab dieses diffuse Licht nicht. Diese diffuse Licht, wenn es dunkel ist und mehrere Lichtquellen in einander fließen. 

 

Ich glaube es gab damals doch einen Zug. Heute habe ich ihn gesehen. Bin schockiert und fassungslos. Auch wenn ich weiß, ich habe völlig unbeschadet überlebt, es war 1983. Wie damals hatten wir heute Glück. Es ist nichts passiert.

 

Michael hatte einen Blackout. Er hatte wohl wirklich weder Ampel noch Straßenbahn auf dem Schirm. Es ist gut gegangen. Ein Glück, die Schutzengel waren bei uns. Auf Grund meines hysterischen Brüllens, war Michael klar, irgendwas musste sein und hat aufs Gas getreten, um schneller über die Gleise zu kommen. Es hat gereicht, dass auch der hintere Teil des Auto unbeschadet über die Gleise kam. Ich denke es war knapp. Sehr knapp.

 

Ich werde mir Hilfe suchen müssen. Bin immer noch völlig down.


Text: Heike Pfennig

Foto: Jens Wittenberg