Suizid. Wenn ein Mensch die Entscheidung trifft zu gehen. Was bleibt?

Suizid - Es war deine Entscheidung

Obwohl ich schon sehr früh, meine Familie gewarnt hatte, offen ausgesprochen hatte, was für mich offensichtlich war, machte ich mir Vorwürfe. Vorwürfe nicht deutlicher gesprochen zu haben, nicht auf den Tisch gehauen zu haben, als ich ausgelacht wurde und dumme Bemerkungen kamen.

 

Damals als alles begann. Vielleicht ...

 

 

Suizid ist nicht vorhersehbar

Jeder Mensch geht seinen Weg, ist in seinem Leben und seiner Lebenswelt, trifft seine Entscheidungen. Nein, ich hätte es so oder so nicht verhindern können. Wer mir erzählt, Suizid lässt sich vermeiden, der lügt. Suizid lässt sich nicht vermeiden. Ein Mensch, der gehen will, der geht. Dieser Mensch ist so verzweifelt, fühlt sich so vom Leben verarscht, hat keine Kraft mehr einen anderen Weg zu gehen, sieht für sich keine lebenswerte Zukunft mehr, möchte anderen Menschen nicht zur Last fallen oder zur Last werden und trägt eine gut sitzende Maske, bis zu dem Tag an dem er geht.

 

Niemand der ihn tagtäglich sieht, kann hinter diese Maske sehen. Nur Betroffene können ein Stück weit,  hinter die Maske sehen. Ich war tief erschrocken,  verdrängte meine Angst und hielt mich in dem Glauben, dass er doch noch Hilfe annimmt. Meine wiederholten Warnungen wurden nicht gehört oder verlacht. "Nicht jeder braucht gleich einen Therapeuten. Der wird das schon machen"! Worte die mir bis heute in den Ohren klingen.

Dankbarkeit und Hochachtung

An dieser Stelle, gilt mein Dank und meine Hochachtung meinem kleinen Bruder. Er hat nicht nur meine Mutter bis zum Tod begleitet, sondern war auch der einzige Mensch, der wirklich noch für meinen großen Bruder da war. Kaum hatte er sich vom Tod meiner Mutter erholt, traf ihn der Suizid wie eine Nagelbombe. Nach dem mein kleiner Bruder sich selbst Hilfe geholt hat und nun wieder einigermaßen Lebensfähig ist, hat er sich auf den Weg zu mir gemacht. Er kam zu mir und gab mir Antworten. Dafür bin ich überaus dankbar.

Ein Mensch geht

Lieber U. du bist gegangen. Du hast die Möglichkeit genutzt, so lange du noch selbst dazu in der Lage warst. Dein Leben, deine Lebenswelt war auseinander gebrochen. Nichts von dem, was du geliebt hast und wofür du eingestanden bist, war noch da. Die Depression schlich sich ein und begann dich zu bestimmen. Heute denke ich, dir war es sehr bewusst, dass die Depression auch bei dir, ihre Krallen ausgefahren hatte. Doch du warst deiner Meinung treu: "Psychomist gibt es nicht..." und "Therapie verdreht den Verstand...!" Die Depression hatte dich irgendwann so sehr im Griff, dass du unbeirrbar keinerlei Hilfe angenommen hast. Leider.

Dann kam noch eine Diagnose und ein Aufenthalt in der Klinik, bei dem du sehen musstest, wie diese Krankheit im Endstadium aussehen kann, hinzu. Unsere Mutter war gestorben. Das öffnete die Schranke, der Krankenhausaufenthalt löste die letzte Hemmung. Akribisch und über Monate hinweg, hast du all deine Angelegenheiten geordnet und vorbereitet. Selbst im Tod, wolltest du niemandem zur Last fallen und niemanden belasten. An einem schönen warmen Herbsttag, bist du an einen wundervollen See gefahren und hast dich erschossen.  

Verständnis und Unverständnis

Ja, an der Stelle, an der mein Bruder war, mit diesen beiden Krankheiten, der zerbrochenen Lebenswelt und seinen Möglichkeiten, hätte ich die selbe Entscheidung getroffen. Hätte ich damals, einen Zugang zur Waffe gehabt, wäre ich schon über 30 Jahre tot. Dieser Gedanke versöhnt mich mit meinem Bruder.

 

Nein, das Leben was er geführt hat, hätte kein Mensch auf Dauer durchgehalten. Hat es ihn so zerschlagen, dass seine Lebenswelt zerbrochen ist? Etwas was ihm unmöglich schien. Ich bin traurig darüber, dass er nicht den Weg hinaus gefunden hat. Warum war er nicht in der Lage, sein Leben neu zu ordnen, wenn es keinen Menschen mehr gab der ihn liebte? Welche Hintergründe hatte seine tiefe Abneigung gegenüber Psychiatern?

 

Fragen, die bleiben. Fragen die nichts mehr ändern. Mein Bruder hat seine Entscheidung getroffen. Er hat für sein Leben und seinen Tod, die Verantwortung übernommen.

Was bleibt?

WARUM - WARUM - WARUM - WARUM ...

 

Es bleiben die Fragen, auch wenn ich Antworten habe.

Es bleiben die Fragen, auch wenn ich Verständnis habe.

 

Es bleibt,

  • die Erinnerung an unser letztes Treffen. Sein furchtbar graues und leeres Gesicht.
  • die Erinnerung an sein aufgesetztes Lachen.
  • meine Wut, weil er seine Welt nicht neu ausrichten konnte.
  • meine Wut, weil er keine Hilfe angenommen hat.
  • meine Wut, ich kämpfe schon so lange und er schmeißt einfach hin.
  • dass furchtbare Gefühl, dass er nicht mehr da ist.
  • die Erkenntnis, dass er nicht stark genug war, sein eigenes Leben neu zu ordnen.
  • die Erkenntnis, Depressionen töten.
  • die Erkenntnis, Stigmata verhindern die Annahme von notwendiger Hilfe.

 

Es bleibt, dass es SEIN LEBEN - SEINE VERANTWORTUNG - SEINE ENTSCHEIDUNG war! Es tut weh!

 

Der Tod trennt das Leben, nicht aber die Liebe. Ich wünsche dir alles Gute, da wo du jetzt bist.

Was es noch zu sagen gibt!

Ich wünsche, jedem der über Suizid nachdenkt, genau in diesem Augenblick, ein kleines Vögelchen, das ihm das Lied vom Leben singt. Mag es gerade noch so schwer sein, noch so aussichtslos und leer, es gibt einen Weg aus der Depression heraus. Es gibt immer ein Licht am Horizont. Es lohnt sich zu leben, denn wenn wir darum kämpfen, können wir es gestalten, wie es uns gut tut und so wie wir glücklich werden können. Bitte gebt nicht auf! Wenn ihr Suizidgedanken habt sucht euch sofort Hilfe in einem Krankenhaus oder ruft die Telefonseelsorge 0800 111 0111 oder 0800 111 0 222 an, sie helfen weiter.  Wir haben das Leben verdient! Bitte nehmt Hilfe an, denn ohne Hilfe geht es nicht. Eure Heike