Ich bin anders, anders

Ich bin anders, anders

Das Gänseblümchen

Das Gänseblümchen ist auch anders! Anders als andere Blumen. An seinem Stängel wächst kein Blatt. Es ist klein.

Doch die allermeisten Menschen lieben das Gänseblümchen, genau deshalb. Das Gänseblümchen zeigt mir, wie stark auch ich sein kann, obwohl ich anders bin. Ein Gänseblümchen zeigt im Frühjahr schnell seine Blüte. Es wächst im dichten Gras, in den festen Zwischenräumen von Gehwegplatten oder Mauern. Es sucht sich seinen Weg und zeigt unbeirrt seine Schönheit, sein anders sein. Trotz seines anders seins, ist es schön, wird nicht als Unkraut bezeichnet, steht stolz auf der Wiese und zaubert mir ein Lächeln der Freude in mein Gesicht.

 

Ich bin anders anders.

Warum? Weil ich, völlig normal anders bin. Kein Mensch gleicht dem anderen. Jeder Mensch ist anders. Auch ein Zwilling ist gegenüber dem anderen Zwilling anders. Doch ich bin anders, anders. Ich fühle dieses anders sein, in meiner Seele, schon seit der Kindheit. Es gab Menschen in meinem Leben, die mich denken gelernt haben, ich sei anders. Menschen die mich fühlen ließen ich sei anders. Anders.

Anders sein war für mich immer negativ besetzt.

"Das kann nur dir passieren. So was kriegst nur du hin... ." Ich war es die die Eierpackung aus dem Einkaufsbeutel verlor. Ich war es die die Milchflache im Einkaufsbeutel zerschlug. Ich war es, die Schuld war, wenn es zu Hause unter uns Kindern krachte. Ich war es, die die feinen weißen Strumpfhosen beim Rollschuh-Laufen zerriss. Ich war es die sich ein Loch im Kopf holte, weil sie mit den glattesten Schuhen schlittern gegangen war. Ich war es, die nie gut genug war, auch wenn ich stets versuchte perfekt zu sein. Ich war es, die in eine falsche Stadt zog. Ich war es, die sich immer den falschen Mann suchte. Ich war es, die die Männer nicht halten konnte. Ich war es, die sich von den Männern auch noch Kinder machen ließ. Ich war selbst Schuld, dass mein Mann mich schlug, warum reizte ich ihn so. Ich war es, deren Kinder nie etwas Gescheites werden werden konnten. ... ...

Ich war anders! 

Ich bin anders. Ein schlimmes Gefühl, welches mich in meinem Leben begleitet hat. Ich war anders - ich war selbst Schuld. Dieses Gefühl war immer verbunden mit "ich kann nichts richtig machen, ich mache alles falsch, ich bin es nicht wert".

Es gab viele Jahre, in denen mir immer wieder gesagt wurde, ich hätte zu viel Herz, ich würde zu viel fühlen und das gehöre nicht zu meiner Arbeit oder "Gefühlsduselei" passt nicht. Arbeit mit dem Menschen, ohne Empathie war für mich nicht möglich. Ich war eben anders. Ich arbeitete weil es mir wichtig war, für Menschen da zu sein, ihnen zu helfen oder für sie Gutes zu tun. Aber es zerbrach mich. Heute stehe ich zu meiner Hoch-Sensibilität und Empathie. Genau so möchte ich sein.

 

Als ich 2011 psychisch zusammenbrach wurde ich anders, anders.

Jetzt war ich anders, anders. Jetzt war ich psychisch krank. Ich bemerkte es schon lange, doch eingestehen konnte ich es mir nicht. Ich machte so lange weiter, bis gar nichts mehr ging. Ich fiel in ein großes, dunkles, graues, leeres Loch. Ich bekam die Diagnosen: schwere Depression, Angststörung, soziale Kontaktstörung, Panikstörung, Dissoziative Störungen und später noch PTBS. Ich verdanke meiner damaligen Hausärztin Frau Dr. H. mein Überleben. Ohne ihre Diagnose Depression und die Einweisung in die Psychiatrische Tagesklinik, würde ich heute, ganz sicher nicht, da stehen wo ich stehe. Es war der Beginn meines neuen Lebens, meines Lebens mit dem anders sein, meines langen Therapieweges. Nein, Depressionen gehen nicht einfach wieder weg. Nein, ohne Therapie, lernen wir nicht besser mit dem Leben, mit den täglichen Herausforderungen und Überforderungen umzugehen. Nein, ohne Therapie erhalten wir keine Antworten auf all diese Fragen, die in unserem Kopf durcheinander quirlen. Die Therapie hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen, mich selbst zu schützen, mir selbst zu verzeihen, mir geholfen mein "anders sein" anzunehmen und vor allem Hilfe anzunehmen. Es ist ein langer Weg, den ich noch immer gehe. Es geht manchmal in großen Schritten voran. Dann achtkantig wieder zurück. Aufgeben ist für mich keine Option.

 

Ich bin anders, anders. Na und? Ich bin gut wie ich bin. Ich will sein wie ich bin.

Bis heute gibt es Dinge, die ein normaler gesunder Mensch nicht verstehen kann. Das ist so. So vieles kann ich ja selbst nicht verstehen. Wichtig ist, dass mich der Mensch gegenüber so nimmt wie ich bin. Das er mir vertraut, wenn ich ihm sage, was in mir vorgeht oder was ich nicht kann. Er kann es nicht verstehen. Er kann es aber akzeptieren und wenn ich ihn bitte, kann, darf und manchmal soll, er mir helfen.

Mir fehlt an vielen Tage jede Motivation. Aufstehen, Morgentoilette, anziehen, essen..., alles ist ein Kraftakt. Es ist als wenn ich Beton an den Füßen und Stahlplatten auf den Schultern hätte. Nichts geht! Ja! Geht nicht gibt es! An solchen Tage schlafe ich viel und hänge irgendwie auf dem Sofa herum. An anderen Tagen, wird es am Mittag oder Nachmittag besser und dann schaffe ich es mich anzuziehen und ein paar alltägliche Aufgaben zu meistern. Es gibt auch Tage, an denen ich "Bäume ausreißen" könnte, an denen ich Leben in mir spüre und niemandem auffällt, dass ich krank bin. Doch am nächsten Tag, kann das plötzlich wieder ganz anders aussehen. Ich führe ein Leben auf der Achterbahn.

 

Bis heute gibt es, ganz "einfache" Alltäglichkeiten, die ich nicht kann.

Dann bitte ich meinen Mann, mir zu helfen. Wenn ich Ärzte besuche, Zahnarzt, Hausarzt...  gehe ich nicht, bevor ich einen nächsten Vorstellungstermin habe. Nur so gelingt es mir regelmäßige z.B. Zahnarztkontrollen zu meistern. Ja, auch wenn die Termine jährlich sind, verfahre ich so. Wenn ein unvorhergesehener Arztbesuch ansteht, ich mir einen Termin machen muss, dann baut sich einen unüberwindbare Hürde auf. Es dauert Wochen- ja manchmal Monate-lang, bis ich telefonisch diesen Termin vereinbare. An dieser Stelle greift oft mein Mann ein und vereinbart einen Termin für mich. Wenn es möglich ist, liegen diese Termine immer am späten Vormittag bis frühen Nachmittag, weil ich genug Vorlauf benötige, um mich darauf vorzubereiten.

Jeder Termin, ob Arzt, Reisebeginn, Friseur oder Besuch braucht meine Vorbereitung. Natürlich sage ich auch schon mal den Besuch meiner Freundin oder bei unseren Kindern kurzfristig zu. Ich freue mich darauf. Doch schon ein paar Stunden später ändert sich meine Freude in Vorbereitungsstress, im Kopf. Dieser ist erst vorbei, wenn meine Freundin vor mir steht, wir losfahren oder ich losgehen muss. Absagen von Terminen ist genau so schwer, so dass ich mich zwingen kann, Termine einzuhalten. Es ist ein wahnsinnig schwerer Kraftakt. Oft brauche ich danach mehrere Tage der Erholung.

Kein gesunder Mensch kann das nachvollziehen. Muss er auch nicht. Es ist so, dass kann er akzeptieren oder eben nicht. Heute sage ich manchmal "es gibt Schlimmeres". Menschen, die mich nicht akzeptieren, meide ich.

 

Als ich Menschen traf, die auch anders anders waren

Wichtig auf meinem Weg durch die Therapien, waren auch die Menschen die ich traf. Menschen, die wie ich in der Klinik oder Therapie waren. Sie waren Balsam für meine Seele. Warum? Es waren Menschen wie ich. Sie konnten mich verstehen. Sie wussten wovon ich sprach. Sie waren auch anders. Sie erzählten von sich und ich von mir und wir hatten gemeinsames Leid, trotz unterschiedlichster Lebenswege, Ausbildungen oder Leidenswege. Sie alle haderten wie ich, mit diesem anders sein. Es war nun aber leichter für mich, damit umzugehen. Jetzt wusste ich, ich bin nicht allein, ich würde nicht "spinnen", "mich anstellen", "zu faul sein"... .  Diese Menschen hörten zu und nicht weg. Sie kämpften, wie ich, um jeden kleinen Schritt in die "Normalität". Wir machten uns gegenseitig Mut oder erinnerten uns an Gelerntes. Ich bin dankbar, für jeden Menschen, mit dem ich mich in meinen Klinikaufenthalten verband.

Ich lernte viele Therapeuten kennen. Sie alle sind keine "Klugscheißer" oder "Weltverbesserer". Sie sagten mir nicht was ich denken, fühlen oder tun sollte. Nein, sie lernten mir, mir selbst zu vertrauen, eigene Gedanken zu differenzieren und vor allem lernte ich, dass ich gut genug bin. Ich bin gut genug! Genau so wie ich bin! Ich muss nicht perfekt sein und ich muss nicht Wege gehen, die andere gehen oder die andere für mich vorgesehen hatten. Ich lernte und lerne noch immer, meinen eigenen Weg zu gehen. Therapie ist kein Spaziergang. Therapie ist harte Arbeit. Harte Arbeit an und mit sich selbst. Therapie tut manchmal weh. Therapie ist Seelenbalsam. Hab Mut und such dir Hilfe, nimm Therapie in Anspruch, ist alles was ich dir sagen kann, wenn auch du krank bist.

 

Ich bin es wert! Du bist es wert!